Ich sitze wieder einmal am Sofa und „binge“ mich durch den Freitagabend. Zufällig bin ich auf eine sechsteilige Doku gestoßen, in der es darum geht, einen einzigartigen Gospelchor zu gründen. Da gibt es viele besondere Menschen, die nicht nur unglaublich gut singen können, sondern die auch sehr bewegende Geschichten zu erzählen haben. Und aus den meisten dieser Geschichten ist herauszuhören, dass diese Menschen sehr oft gehänselt, gemobbt, ausgegrenzt und verspottet wurden.
Ungerechtigkeit ist nicht das Diminutiv des Unrechts, sondern die Wurzel allen Übels.
Erhard Blanck
Und da ist es plötzlich wieder, dieses Gefühl – eine Mischung aus ungläubigem Staunen und großer Wut. Staunen darüber, wozu Menschen fähig sind und warum und Wut über diese unglaubliche Ungerechtigkeit.
Mit einem Mal fühle ich mich zurückversetzt in meine Grundschulzeit. Unser Dorf war groß genug, um eine eigene Grundschule zu haben, aber doch so klein, dass die Klassen übersichtlich waren. In unserem Jahrgang waren wir 16 Kinder: zehn Jungen und sechs Mädchen.
Da die meisten von uns bereits die Kindergartenzeit miteinander verbracht hatten, verstanden wir uns grundsätzlich gut. Ich war oft da zu finden, wo gerannt, getobt und gespielt wurde. Ob beim Fußballspielen, Radfahren oder Fangen – ich war mittendrin. Dabei war es völlig irrelevant, ob die anderen Jungs oder Mädels waren.
Doch irgendwann gab es unter den Mädchen eine Veränderung. Ich kann den genauen Zeitpunkt nicht mehr benennen, aber eine der genannten sechs stieg zu einer Art Anführerin in unserer Runde auf (oder ernannte sich selbst dazu). Sie bestimmte, dass immer eine aus der Gruppe für einen bestimmten Zeitraum ausgeschlossen wurde. Dabei verstand sich natürlich von selbst, dass sie nie selbst zu den Verstoßenen gehörte. Ich wurde glücklicherweise auch verschont, warum auch immer. Während die anderen bei diesem „Ausstoßen“ mitmachten und mit der Ausgewählten kein Wort sprachen, geschweige denn, sich mit ihr zum Spielen trafen, ging mir dieses Verhalten immer gegen den Strich. Ich fand es von Grund auf falsch und unfair und traf mich trotzdem mit den Betreffenden. Wir waren vorher alle befreundet gewesen, warum sollte sich daran etwas ändern, nur weil das jetzt jemand anders bestimmt hatte?
Zugegebenermaßen war das wohl meine einzige Art der Rebellion gegen dieses Vorgehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, die Anführerin einmal offen zur Rede gestellt zu haben. Dass ich damals irgendwo zwischen 8 und 10 Jahren alt war und die Anstifterin ungefähr doppelt so kräftig, wie ich, ist rückblickend nur eine lahme Entschuldigung.
Im Gymnasium wurde es mit der einsetzenden Pubertät zwischenmenschlich gesehen nicht viel besser. Es bildeten sich die Grüppchen, die man aus amerikanischen Filmen kennt, nur ohne Cheerleader und Quarterbacks. Die einen waren hip, schminkten sich früh und himmelten die Jungs an. Die anderen waren das, was man heute vielleicht Nerds nennen würde. Sie hatten nicht die neuesten Klamotten, waren nicht besonders sportlich und machten sich nicht so viel aus Schminke und Jungs. Eine Überschneidung der beiden Gruppen gab es außerhalb des Unterrichts so gut wie nie.
Auch hier gehörte ich irgendwie wieder weder zu der einen, noch zu der anderen Hälfte. Doch auch hier gab es ungerechtes Verhalten gegenüber einzelnen Mitschülerinnen, die ich nicht ertragen konnte. Und auch hier bestand mein „Aufbegehren“ darin, mich mit diesen Mitschülerinnen zu treffen, damit sie nicht so alleine waren. Natürlich hätte ich auch hier aktiver werden können. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Ausreden kann man viele finden – die Zeit war anders, das war damals einfach so, es war kein richtiges Mobbing. Doch was soll damals „anders“ gewesen sein, als heute? Warum soll „einfach so“ die Betroffenen damals weniger verletzt haben? Und was soll eigentlich „richtiges“ Mobbing bedeuten? Sich gegenüber anderen gemein zu verhalten ist immer falsch, egal wie man es nennt.
Man – ich – müsste viel häufiger den Mund aufmachen, wenn es zu Ungerechtigkeiten kommt. Dabei spielt es auch hier keine Rolle, wie man es nennt: Empathie, Mut, Zivilcourage. Es geht darum, auf die Missstände hinzuweisen. Im Kleinen wie im Großen. Viele reden oder handeln oft, ohne darüber nachzudenken, wie es bei der/dem Gegenüber ankommt. Darauf hinzuweisen gibt vielleicht einen Anstoß, das Reden und Handeln zu überdenken. Und wenn es nur in einem einzigen Fall so ist, ist schon etwas gewonnen.
Auch ich stelle mir die Frage, warum ich so oft den Mund halte, statt auszusprechen, was mich stört. Oft ist es nur ein Reflex, etwas wegzulachen, mitzulachen, statt zu sagen „Halt! Stopp! Das ist nicht so lustig, wie du vielleicht glaubst!“.
Es mag Zeiten geben, da wir gegen Ungerechtigkeiten machtlos sind, aber wir dürfen nie versäumen, dagegen zu protestieren.
Elie Wiesel
Diese Ungerechtigkeit gegenüber anders Aussehenden, anders Glaubenden, anders Fühlenden, anders Liebenden, gegenüber Menschen, die einfach anders sind, als man selbst – und mal ganz ehrlich, das sind wir doch alle – der Hass und die Ungerechtigkeit gegenüber diesen Menschen, muss wieder weniger werden. In der heutigen Zeit, in der es so einfach ist, sich hinter anonymen Kommentaren auf Social Media zu verstecken, ist es um so wichtiger, etwas zu unternehmen, statt still zuzuschauen. Ob man nun selbst dagegen kommentiert oder einfach die Möglichkeit nutzt, den Kommentar oder Post zu melden, sei jeder und jedem selbst überlassen. Und wer sich vielleicht nicht stark genug fühlt, andere zur Rede zu stellen, der kann bei sich selbst anfangen, sich selbst reflektieren – wie gehe ich mit anderen um, was machen meine Worte und Taten mit meiner/m Gegenüber.
Und so sitze ich selbst auf dem Sofa und frage mich, was ich besser machen kann, als ich diese Doku anschaue. Neulich. Auf Netflix.
Wie genial wäre es, wenn wirklich jeder….sich selbst hinterfragen würde…ich denke das die Welt ein Stück weit besser wäre….Danke für deinen Denkanstoß