Es ist Montag. Genaugenommen der Montag nach der Bundestagswahl. Schlaftrunken setze ich mich an den Frühstückstisch und öffne am Handy das Internet, um mich über den Ausgang der gestrigen Wahl zu informieren. „Bundestagswahl 2017 Ergebnisse“ gebe ich in das Suchfeld ein. Während sich die Suchmaschine durch die zahlreichen Ergebnisse kämpft und sich langsam eine Seite aufbaut, greife ich zu meinem Kaffee, in der Hoffnung, meine Müdigkeit damit bekämpfen zu können.
„Das dauert aber ungewöhnlich lange“, denke ich mir, als ich darauf warte, dass sich aus den buten Pixeln ein vernünftiges Balkendiagramm aufbaut. Ein Blick auf den Handybildschirm bestätigt mir jedoch, dass ich vollen Empfang habe. Merkwürdig.
Die Balken nehmen nach und nach Gestalt an und ich denke mir zunächst wenig, bei der Reihung und Farbgebung. Es ist ja schließlich erst 6 Uhr 30. Doch als die Grafik endlich zu Ende geladen ist, kann ich meinen Augen kaum glauben. „AfD 52,3%“. Das Ergebnis schafft, was kein Kaffee der Welt zuvor hätte schaffen können – ich bin mit einem Schlag hellwach. Was ist geschehen? Das kann nicht wahr sein! Das DARF nicht wahr sein!
Hektisch beginne ich verschiedene Suchanfragen in den PC einzugeben, doch wie schon zuvor baut sich die Liste der Ergebnisse sehr langsam auf. Ganz so, als würden sie nur langsam durch ein zu kleinmaschiges Sieb tropfen.
Die Zeit drängt und ich muss meine Recherche abbrechen. Die Arbeit ruft. Merkwürdigerweise geht dort alles seinen geregelten Weg. Hat denn niemand mitbekommen, was geschehen ist? Dass eine rechte Partei die Mehrheit im deutschen Bundestag erlangt hat und alleine die Regierung bilden kann? Der erste Termin des Tages steht vor der Tür und so komme ich nicht mehr dazu, mir weitere Gedanken zu machen.
Am Abend zu Hause angekommen, versuche ich erneut weitere Informationen im Internet zu finden. Und langsam wird diese Nachricht traurige Gewissheit. Ich bin noch immer fassungslos, aber nicht sprachlos und beschließe, meine Gedanken in einem Blogbeitrag nieder zuschreiben.
Ich surfe vorab noch ein wenig durch ältere Blogbeiträge und als ich auf den Eintrag „Neulich zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ klicke… tut sich nichts. „Die Seite konnte nicht gefunden werden“ ist dort zu lesen.
„Merkwürdig“, denke ich mir zum zweiten Mal an diesem Tag.
Ich beginne zu schreiben und bin ganz vertieft in meine Gedanken, als es plötzlich an der Tür hämmert. Zwei Polizisten stehen vor der Tür und fragen Frau von Neulich nach mir. Ich gehe zur Tür und einer der beiden fragt „Sind Sie Frau Neulich?“ Ich nicke nur. „Dann muss ich Sie mitnehmen.“ In mir toben tausend Gefühle: Angst, Schreck, Fassungslosigkeit, Unverständnis… „Was wird mir denn vorgeworfen?“ frage ich. „Das erfahren Sie noch früh genug und jetzt umdrehen!“ Mir bleibt nicht einmal Zeit, mir noch etwas über zuziehen oder mich von Frau von Neulich zu verabschieden.
Man steckt mich in eine enge, dunkle Zelle. Es gibt nichts, außer einer muffigen Decke am Boden und einem Eimer in der Ecke. Es ist kalt. Ich bin allein. Anfangs versuche ich noch durch Rufe auf mich aufmerksam zu machen, verlange Auskunft und einen Anwalt. Aber mir wird nur die Klappe in der Zellentür vor der Nase zugeschlagen und somit er letzte Blick in die Außenwelt genommen.
Zwei Tage muss ich wohl dort verharrt haben, ohne Essen und etwas zu trinken. Ohne Kontakt. Ohne Licht. Und vor allem ohne zu wissen, warum ich überhaupt hier bin.
Endlich höre ich, wie sich ein Schlüssel in der Tür dreht. Grelles Flurlicht fällt hinein und ich muss die Augen schließen, weil ich die plötzliche Helligkeit nicht ertragen kann.
Man schreit mich an aufzustehen, reißt mich vom Boden hoch und führt mich fort. Ich stolpere wie durch einen grellen Nebel neben dem Beamten her und bin erleichtert, als man mich auf einen Stuhl drückt. Langsam haben sich meine Augen etwas erholt und ich versuche die Umgebung wahrzunehmen.
Ich befinde mich in einem kleinen, fensterlosen Zimmer mit einem Tisch und einigen Stühlen. Die Tür öffnet sich und zwei Männer in strengen Anzügen treten ein. Ich habe kein gutes Gefühl beim Anblick dieser beiden Herren. Ihr Auftreten und ihre Ausstrahlung verheißen nichts Gutes.
„Sie sind also diese Frau Neulich?“ legt der Größere der beiden mit bellender Stimme los. Ich nicke benommen. „Mach‘ gefälligst den Mund auf, wenn ich mit dir rede!“ schreit er und ich weiche vor Schreck auf meinem Stuhl so weit wie möglich zurück.
„Ja – ich bin Frau Neulich. Aber was…“, setze ich an.
„Hier stelle ich die Fragen, verstanden?!“ werde ich erneut angeschrien.
Und dann erfahre ich nach und nach, was der Grund für meine Festnahme ist. Immer wieder werde ich dazu befragt, warum ich mich negativ gegenüber der AfD geäußert habe. Dass ich die Regierungspartei verunglimpft habe und dass ich vermehrt Hetze betrieben und zum Aufstand aufgerufen hätte. Ein um die andere Frage fliegt mir um die Ohren. Mir ist schwindelig, ich bin hungrig und unendlich durstig und mein Kopf schmerzt. Ich bin kaum noch fähig, einen geraden Satz herauszubringen, was nicht dazu beiträgt, dass ich mich ausreichend verteidigen kann.
In mir wächst Hoffnungslosigkeit und Panik. Und gerade als ich mich mit letzter Kraft aufrichten will… wache ich auf.
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen, später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man muß den rollenden Schneeball zertreten; die Lawine hält keiner mehr auf.“
Erich Kästner
Es war zum Glück nur ein böser Traum. Doch sind wir mit dem tatsächlichen Ergebnis der gestrigen Bundestagswahl noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen? Nein – das sind wir nicht. Die AfD hat (nach aktuellem Stand) 12,6% der Stimmen erhalten und wird als drittstärkste Partei in den Bundestag einziehen. Die Parallelen zur Reichtagswahl von 1928 und 1930 sind erschreckend. Auch die NSDAP legte innerhalb von nur zwei Jahren durch das Schüren von Ängsten deutlich an Stimmen zu und mutierte zur zweitstärksten Partei im Land. Und wo das hingeführt hat, wissen wir alle.
Es ist richtig – die Regierung hat es in den letzten Jahren nicht geschafft, den Menschen ihre Sorgen und Ängste zu nehmen. Aber wie viel Mühe haben sich die Menschen gegeben, sich ihren Sorgen und Ängsten zu stellen? Wie viele Menschen haben versucht, offen und vorurteilslos auf einen Ausländer zuzugehen und ihn kennen zulernen, statt sich am Stammtisch hinter nachgeplapperten Parolen zu verstecken?
Es ist einfach, die anderen für alles verantwortlich zu machen und selbst keine Verantwortung zu übernehmen. Es ist einfach, auf die Politiker zu schimpfen und dann sein Recht auf Mitbestimmung zu missachten und nicht zur Wahl zu gehen. Für mich ist es einfach nur dumm und ignorant.
Natürlich ist nicht alles gut. Und natürlich ist es verständlich, wenn Menschen Angst haben. Aber es wird nicht besser, wenn wir uns voneinander abschotten und allem und jedem Fremden misstrauen.
„Es ist wichtiger, etwas im kleinen zu tun, als im großen darüber zu reden.“
Willy Brandt
Wenn wir im Kleinen nicht versuchen, unser Umfeld besser zu machen, wie sollen es dann die Politiker für ein ganzes Land schaffen? Wir müssen wieder zusammenrücken, uns gegenseitig Vertrauen schenken, offen auf Menschen zugehen, Bedürftigen eine helfende Hand reichen und uns auf Neues einlassen. Das, was dabei entsteht, ist so viel wichtiger, so viel bereichender, als sich abzugrenzen und unter sich zu bleiben.
Und so hoffe ich, dass dieses Wahlergebnis in Deutschland ein Wachrütteln war und der Beginn eines neuen Miteinanders. Neulich. Nach der Bundestagswahl.